Überleben auf der Müllhalde

In Lateinamerika klafft die Lücke zwischen Arm und Reich auseinander

Managua. Wenn morgens um sieben Uhr die ersten Müllwagen auf der
Müllhalde Chureca eintreffen, beginnt für Flor die Arbeit. Die 35-Jährige
durchwühlt die Abfallberge nach Verwertbarem wie Papier, Altglas, Eisen
oder Schuhsohlen. Ihr Mann und sechs Kinder helfen mit. Auf der rund 47
Hektar großen Abfalldeponie mitten in Nicaraguas Hauptstadt Managua wohnen
rund 150 kinderreiche Familie. Sie leben von dem, was sie im Müll finden
und verkaufen.

Die Menschen auf der stinkenden Müllhalde gehören zu den Ärmsten der Armen.
"In Chureca herrscht die schlimmste Lebenssituation, die man sich
vorstellen kann", sagt Eddy Perez von einer lokalen Hilfsorganisation. Die
UN haben sich bei ihrem Millenniumsgipfel im Jahr 2000 verpflichtet, gegen
die Armut auf der Welt vorzugehen. Bis 2015 soll der Anteil der extrem
armen Menschen halbiert werden.

Auf der Müllhalde ist bislang das Gegenteil eingetreten: 1990 lebten 150
Menschen dort, berichtet Perez. Heute sind es 1.900 Nicaraguaner, die ihr
Auskommen im Abfall suchen, die Mehrheit sind Kinder und Jugendliche. Das
sei die Folge der steigenden Armut in ganz Nicaragua, so Perez. Es fehlten
Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten. Wer keine andere Wahl mehr habe,
versuche sich auf der Müllhalde durchzuschlagen.

Was sich im Armenhaus Nicaragua beobachten lässt, gilt nach neuen
UN-Studien für viele Länder Lateinamerikas. Spärliche und ungenügende
Fortschritte, wenn nicht sogar Rückschritte in der Armutsbekämpfung
bescheinigt ihnen Jose Luis Machinea, Generalsekretär der
UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal).

Von der über einer halben Milliarde Einwohnern Lateinamerikas gelten laut
Cepal immer noch 19 Prozent (96 Millionen Menschen) als extrem arm. Um das
wichtigste Millenniumsziel zu erreichen, müsste dieser Anteil bis 2015 auf
elf Prozent sinken.

In Lateinamerika hat nur Chile das Ziel der Armutshalbierung bereits
erreicht. Auf einem guten Weg sind laut Cepal Brasilien, Costa Rica,
Mexiko, Panama und Uruguay. Nur sehr langsam geht die Bekämpfung der Armut
dagegen in den ärmsten Ländern der Region voran - in den Andenstaaten, in
der Karibik und in den meisten mittelamerikanischen Staaten. Deutlich
erhöht hat sich die Armutsquote laut Cepal in Argentinien und Venezuela.

Dabei wächst die Wirtschaft in Lateinamerika. Das Bruttoinlandprodukt der
Region ist im vergangenen Jahr um 5,9 Prozent gestiegen. Die Exporte
wuchsen um 23 Prozent, die Direktinvestitionen nahmen um 38 Prozent zu. Und
es gibt immer mehr Reiche: Die Zahl der Millionäre stieg um sechs Prozent.

"Das Wirtschaftswachstum ist notwendig, aber nicht ausreichend", sagt
Machinea. Lateinamerika sei weltweit die Region mit den größten
Unterschieden zwischen Arm und Reich. Dieses Grundübel müsse angepackt
werden. Dazu bedürfe es großer innenpolitischer Anstrengungen.

Um Druck auf die Regierungen auszuüben, seien die Millennimusziele ein
"wichtiges politisches Argument", sagt der Sozialarbeiter Perez auf der
Müllhalde in Nicaragua. Bislang hätten Regierungen und Behörden die
Verantwortung für die Ärmsten der Armen oft auf private Hilfswerke
abgeschoben. Aber Sozialarbeit alleine genüge nicht, um die Lage der
Menschen zu verbessern, meint Perez. Um die Kinderarbeit zu beenden und
"würdige Arbeit" für Erwachsene zu schaffen, seien politische Veränderungen
notwendig. (09751/5.9.2005)

epd kne fu