Lateinamerika, Kontinent der heimlichen Abtreibungen

Managua / 6.12.06

Ein Kaiserschnitt hätte die 18-jährige Schwangere retten können. Ihr Baby im fünften Monat ist bereits gestorben, als Yasmina Bojorges mit hohem Fieber in Managua im Krankenhaus eintrifft. Doch die Ärzte wagen keinen Eingriff, aus Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen. Am nächsten Morgen ist die junge Frau tot. Sie hinterlässt einen zweijährigen Sohn.

Bojorge gilt als erstes Todesopfer einer Gesetzesverschärfung, die Nicaragua vor einem Monat beschlossen hatte, mitten im Präsidentschaftswahlkampf. Auf jegliche Abtreibung stehen in Nicaragua seither Freiheitsstrafen von bis zu acht Jahren. Das gilt auch dann, wenn der Abort das Leben der Schwangeren retten soll. "Das verurteilt Tausende von Frauen zum Tod", sagt die Frauenärztin Ana María Pizarro von der "Autonomen Frauenbewegung": "Das Recht des ungeborenen Lebens wird über das Recht der Frau gestellt."

Nicaragua setzt mit seinem absoluten Abtreibungsverbot einen Trend in Lateinamerika fort. Zuerst eingeführt hat es 1989 Chile. Es war eine der letzten Amtshandlungen des damals abtretenden Diktators Augosto Pinochet. Alle Versuche zur Lockerung sind seither im Parlament gescheitert. Es folgten Honduras (1997) und El Salvador (1998). Im Rest Lateinamerikas ist die Abtreibung oft nur zur Rettung des Lebens der Schwangeren erlaubt, wie zum Beispiel in Argentinien, Guatemala, Haiti, Paraguay und Venezuela. Einige Staaten erlauben den Abort auch nach Vergewaltigung oder Inzest, wie zum Beispiel Bolivien, Brasilien und Mexiko. Die Strafen für illegale Abtreibung sind drakonisch, im mittelamerikanischen Belize etwa bis zu 14 Jahre Haft. Hingegen die generell straffreie Abtreibung in den ersten Schwangerschaftswochen kennen nur einige Inselstaaten der Antillen und der Karibik, darunter das sozialistische Kuba.

Pizarro nennt die Folgen der "menschenrechtswidrigen" Abtreibungsgesetze. Es sind nicht nur die spektakulären Fälle wie der von Yasmina Borge. Noch schlimmer ist für Pizarro, was sich in Lateinamerika Tag für Tag heimlich abspielt. "In ihrer Verzweiflung treiben viele Frauen heimlich ab", sagt die Frauenärztin und Forscherin. In ihrer über 20-jährigen Tätigkeit ist sie häufig mit den Folgen eines missglückten illegalen Abortes konfrontiert worden, manchmal mit tödlichen Folgen für die Schwangere. Pizarro präsentiert die Statistiken Lateinamerikas zur Müttersterblichkeit: Häufigste Todesursache ist in vielen Ländern die missglückte Abtreibung, so etwa in Argentinien, Chile, Paraguay und der Dominikanischen Republik.

Schätzungsweise 3,7 Millionen illegale Abtreibungen werden in Lateinamerika jährlich durchgeführt. Im Durchschnitt führt jede Frau in Lateinamerika damit einmal in ihrem Leben einen illegalen Abort durch. Das ist so häufig wie in keiner anderen Region der Erde, zeigt eine im November veröffentlichte Studie der US-Universität North Carolina. (1) 4000 bis 6000 Latinas jährlich bezahlen den heimlichen Abtreibungsversuch mit dem Leben. Die Autoren der Studie stellen fest: "Am höchsten sind unsichere Abtreibung und die damit verbundene Sterblichkeit in Ländern, die wenig Raum für eine legale Abtreibung lassen."

Die restriktiven Abtreibungsgesetze in vielen Ländern Lateinamerikas wurden seit den 90er Jahren wiederholt von der UNO kritisiert. Deren Menschenrechtskomitee hat Peru im vergangenen Jahr verurteilt, nachdem einer Schwangeren mit einem hirnlosen Fötus (Anenzephalie) der legale Abort verweigert wurde.

Selbst in den Fällen, in denen Lateinamerikas Gesetze eine Abtreibung erlauben, stoßen Schwangere auf den Widerstand der Machos in den staatlichen Gesundheitsdiensten. Mexiko etwa gestattet die Abtreibung nach einer Vergewaltigung. Einige Bundesstaaten erlauben weitere Ausnahmen. Doch in Wirklichkeit "senden die Behörden die Frauen von einem Amt zum anderen, bis die Schwangerschaft zu weit fortgeschritten ist, um sicher und legal durchgeführt zu werden", berichtet eine dieses Jahr erschienene Studie der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Die Folge: "In ihrer Verzweiflung geben viele nach einer Vergewaltigung schwangere Frauen den Versuch auf, den legalen Weg zu beschreiten, und wählen stattdessen die heimliche Abtreibung."

Mexiko räumte im März 2006 seine Verantwortung dafür ein, dass sich ein 13-jähriges, vergewaltigtes Mädchen gezwungen sah, sein Baby auszutragen. In einem Verfahren vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission verpflichtete sich das Land zu Kompensationszahlungen und gelobte Besserung. Vom gerade neu eingesetzten Präsidenten des Landes, Felipe Calderón, ist sie nicht zu erwarten. Der Konservative hat, wie viele andere Politiker Mexikos, sein Studium an der Kaderschmiede Anáhuac absolviert. Die Universität steht dem katholischen Geheimbund "Legionäre Christi" nahe und hat die Wahl Calderóns im Juli mit der öffentlichen Verbrennung von Kondomen gefeiert.

Selbst in denjenigen Ländern Lateinamerikas mit linksgerichteter Regierung stocken bisher die Versuche zur Reformierung der Abtreibungsgesetze. Dies hatte etwa in Uruguay Präsident Tabaré Vázquez vor seiner Wahl im Jahr 2004 versprochen. Inzwischen ist er unter dem Druck des Vatikans eingebrochen und hat gar mit der Auflösung des Parlaments gedroht, sollte es einer hängigen Reformvorlage doch noch zustimmen. Ähnlich ist der Stand in Brasilien, wo der soeben wiedergewählte Präsident Luiz Inacio Lula im vergangenen Jahr (2005) ein Reformprojekt auf Eis gelegt hat. In Argentinien schließlich hat sich der linksgerichtete Präsident Néstor Kirchner mit Blick auf den Vatikan zum "Widerstand gegen die Abtreibung" verpflichtet. Liberalisierungsbemühungen in Justiz und Parlament hat er jedoch bisher nicht behindert.

Etwas gelockert hat sein Abtreibungsrecht damit einzig Kolumbien. Dort erklärte der oberste Gerichtshof im Mai dieses Jahres den Abort nach Vergewaltigung, bei Lebensgefahr für die Mutter oder aus eugenischen Gründen für erlaubt. Das Urteil ist auf eine Klage von Frauenorganisationen hin zustande gekommen.

Dem Beispiel Kolumbiens will nun auch Pizarros "Autonome Frauenbewegung" in Nicaragua folgen. Statt aufs Parlament setzt sie auf die Justiz und hat eine Verfassungklage gegen das Abtreibungsverbot vor den höchsten Richtern des Landes angekündigt. Das eröffnet den Weg für ein Verfahren vor einem internationalen Gericht. Eingeschaltet hat sich auch die Staatsanwaltschaft Nicaraguas. Sie ermittelt gegen die Ärzte, die die 18-jährige Yasmina Bojorge sterben ließen.

FUSSNOTEN

(1) The Lancet, Ausgabe vom 1. 11. 06. In der auf WHO-Zahlen basierten Studie führt Lateinameriika mit geschätzten 29 illegalen Abtreibungen je Jahr und 1000 Frauen im Gebäralter (15 bis 44 Jahre). In den 30 Jahren vom 15. bis 44. Lebensjahr nehmen damit je 1000 Frauen 870 Abtreibungen vor, also fast eine (0,87) über den reproduktiven Zyklus. An zweiter Stelle folgt Afrika (24 je 1000), an dritter Asien (13). Zum Vergleich Industrieländer: 2 je 1000

Dasselbe Bild bei feinerer Gliederung der Regionen: An erster Stelle Südamerika (34 je 1000, entsprechend 1,02 Abtreibungen über den rep. Zyklus), an zweiter Stelle folgt Ostafrika (31 je 1000), an dritter Westafrika (25 je 1000). Die niedrigsten Raten weisen die Karibik und Westasien mit je 12 je 1000 aus.

INTERNATIONALE ABTREIBUNGSKARTE
http://www.womenonwaves.org/popup.php?id=1020.245&label=FIG01